Am Montag, 22. Oktober, baute sich in der karibischen See der Tropensturm „Sandy“ auf und nahm Kurs auf Jamaica. Zwei Tage später traf er dort ein und wurde zu einem Hurrikan der ersten Kategorie hochgestuft. Die Schäden waren bereits beträchtlich, in Jamaica und Haiti kamen, meistens durch Überschwemmungen, 37 Menschen ums Leben. Nun zog Sandy, inzwischen zum Hurrikan zweiter Kategorie hochgestuft, Richtung Kuba. Der Sturm hatte an Intensität rapide zugenommen. In der Nacht zum Donnerstag (25.10.), erreichte er Santiago de Cuba, die zweitgrösste Stadt Kubas mit einer halben Million Einwohnern. Dort wurden Spitzengeschwindigkeiten bis zu 240 Stundenkilometern gemessen. Die Stadt wurde in dieser Nacht verwüstet. Auf seinem Weg durch den Osten Kubas wurden 50‘000 Häuser unbewohnbar gemacht, die Ernten zerstört, die Infrastruktur lahmgelegt. 330‘000 Menschen wurden von den Behörden evakuiert. Kaum zu glauben, dass „nur“ 11 Menschen ihr Leben verloren haben. 3 Mio. Kubaner sind ohne Elektrizität, ohne Telefonverbindungen, ohne Wasserversorgung. Hundertausende haben ihre Wohnung verloren. Der Flugverkehr brach völlig zusammen. Es ist der schlimmste Hurrikan im Osten Kubas seit 1957. Die Schäden gehen in die Milliarden.
Am Freitag zog „Sandy“ über die Bahamas weiter in Richtung Norden, die Windgeschwindigkeiten liessen langsam nach, weshalb der Hurrikan um eine Kategorie heruntergestuft wurde. Am Samstag, 27.10., wurde langsam klar, dass „Sandy“ die amerikanische Ostküste bedrohte. Am Montag, 29.10. zog er Richtung Washington und New York und traf am 30.10. auf das Festland mit Windgeschwindigkeiten noch um die 130 Stundenkilometer. Obwohl der Sturm an Intensität deutlich nachgelassen hat, sind die Folgen ebenso gravierend: 8 Mio. Haushalte ohne Elektrizität, 39 Todesopfer, zerstörte Häuser, überflutete U-Bahnen vernichtete Ernten, die Infrastruktur teilweise lahmgelegt. Hunderte von ausgefallenen Flügen. Soweit die Fakten.
Wie sind nun die Schweizer Medien mit diesen Fakten umgegangen? Am Samstag, als die Tragödie in Haiti und Kuba bereits in vollem Ausmass bekannt war, finden sich in der Swissdox-Datenbank 25 Beiträge mit dem Stichwort „Sandy“. Das Ereignis wurde allenfalls als knappe Agenturmeldung beachtet. Immerhin berichtete die NZZ auf ihrer Panorama-Seite dreispaltig mit Bild. In der Sonntagspresse wurde bereits die Bedrohung der USA thematisiert, auf die Verheerungen in der Karibik wurde allenfalls noch am Rande oder in Nebensätzen eingegangen. Am Montag, als es klar wurde, dass Sandy die USA nicht verschonen würde, stiegt die Zahl der Beiträge in den Schweizer Medien auf 83, ohne dass die Katastrophe in der Karibik noch thematisiert worden wäre. Am Dienstag schliesslich, als die Ausmasse der Bedrohung für die USA erkennbar wurden, waren die Medien schon randvoll mit Berichten. Die NZZ berichtete im Frontaufmacher und widmete dem bevorstehenden Ereignis die ganze Panorama-Seite. Die Swissdox-Datenbank vermeldet 137 Einträge. Am Mittwoch ist der Hype total. Die NZZ füllt fast drei (!) Seiten. Radio und Fernsehen bringen Korrespondentenberichte, Interviews mit Betroffenen, Analysen der wirtschaftlichen und politischen Folgen. 156 Dokumente spuckt nun die Datenbank aus. Kuba wird in diesem Zusammenhang überhaupt nicht mehr erwähnt. Kein Wort davon, dass Millionen von Kubaner noch immer ohne Strom und Wasser sind und dass inzwischen in Santiago de Cuba die Cholera ausgebrochen ist. Ganz zu schweigen von den Hundertausenden, die noch auf Wochen, Monate, vielleicht Jahre nicht in ihre Häuser zurückkehren können. Während die Medien von Augenzeugenberichten aus den USA überquellen, sucht man vergeblich nach einer Stimme aus den betroffenen Gebieten der Karibik.
Medienschaffende, auf solche grotesken Verzerrungen der in der Berichterstattung angesprochen, verweisen dann meistens auf den Allerweltsbegriff der „Relevanz“. Die USA seien nun mal „relevanter“ als Kuba, Jamaika oder Haiti. Ja sicher, wenn es um Politik oder Wirtschaft geht. Darum geht es aber gar nicht, sondern es geht zunächst lediglich um die Darstellung einer Naturkatastrophe. Ist eine amerikanische Mutter, die ihr Kind verloren hat, “relevanter“ als eine haitianische Mutter, deren Kind umgekommen ist? Ist ein amerikanischer Farmer, dessen Ernte weggeschwemmt wurde, „relevanter“ als ein kubanischer Kaffeepflanzer, dem dasselbe widerfahren ist? Die surreale Ungleichgewichtung derselben Naturkatastrophe in zwei verschiedenen geographischen Kontexten zeigt vor allem eines: Den kaum noch zu überbietenden Zynismus eines Journalismus, der sich offenbar vom Ziel verabschiedet hat, das Weltgeschehen adäquat abzubilden. Stattdessen erhalten die Machtzentren mit ihren gigantischen Informationsapparaten grotesk mehr Aufmerksamkeit als andere Weltgegenden. Dass die Medien uns ein verzerrtes Bild der Welt liefern, ist nichts Neues. Die Studien zu diesem Thema sind zahlreich. Noch selten wurde uns aber das absurde Ausmass dieser Verzerrung so drastisch vor Augen geführt wie im Falle von „Sandy“. Das Schlimme daran ist, dass dieses „Agenda Setting“ in unseren Köpfen Spuren hinterlässt. Wir halten dieses Welt-Zerrbild, das uns die Medien vermitteln, für die wirkliche Welt: Und so bedauern wir das Los der Amerikaner, die im Dunkeln sitzen und vergessen (oder wissen nicht einmal), dass in der Karibik Hunderttausende ihr Obdach verloren haben – aufgrund desselben Naturereignisses notabene.