Auch «Glokalisierung» will gelernt sein: Das Internet und die Zukunft der Regionalpresse

In: "Neue Zürcher Zeitung" 13. Dezember 2002

Auch die Lokal- und Regionalpresse ist durchs Internet herausgefordert. Die Mehrzahl der Verleger haben denn auch den Schritt in die Online-Welt gewagt. Doch die Lösungen, die publizistisch und kommerziell überzeugen, müssen noch gefunden werden.

Autor: Prof. Dr. Ulrich Saxer, Verwaltungsratspräsident Publicom AG

Die Leser haben sich darauf eingestellt, dass ihre Präferenzen, anders lautenden Beteuerungen der Verleger zum Trotz, für deren Dispositionen nachgeordnete Bedeutung haben. Eine repräsentative Befragung deutscher Zeitungsverleger vom Winter 2000/01 ergab, dass diese auch ihre Online-Strategie primär angebotsorientiert, also im Hinblick auf ihr angestammtes Produkt, und nur sekundär nutzerorientiert festlegten. Die Nutzer geben sich ja ohnehin auf den stark konzentrierten lokalen und regionalen Medienmärkten mit zweit- und drittbesten Angeboten zufrieden; die Werber erzielen trotzdem akzeptable Reichweiten und die Verleger ihren Gewinn.

Sinkende Anzeigenerlöse infolge der ungünstigen allgemeinen Wirtschaftslage und der Abwanderung vieler Inserate und vor allem auch junger Leser zum Internet, neben einer gewissen Bereitschaft zum Risiko, haben in Deutschland wie in der Schweiz die meisten lokalen und regionalen Zeitungsverleger dazu veranlasst, ins Online-Geschäft einzusteigen: zur Kompensation dieser Einbussen, zur Sicherung des Fortbestands der gedruckten Ausgabe, zur Expansion in einen fremden Markt – und um auch dabei zu sein.

Diesen unterschiedlichen Motiven entsprechen je andere Investitions- und Produktgestaltungsstrategien. Sie reichen von der blossen «Visitenkarte » im Netz bzw. der Teilverdopplung der Printausgabe durch die Online-Version über die schon aufwendigere Bereitstellung einer lokalen oder regionalen Plattform bis zum eigenständigen Online-Dienst mit exklusiv für diesen produzierten und ausschliesslich dort abrufbaren Informationen und entsprechend höherem Mehrwert.

 

Schweizer müssen Vergleich nicht scheuen

Wie schon ehemals bei den Lokalradios ist auch hier verlegerische Kreativität mindestens ebenso wichtig wie ausreichende wirtschaftliche Ressourcen. So fällt der Internetauftritt einiger schweizerischer Regionalblätter mit ständig aktualisierten Informationen zur Region als Wirtschaftsraum und als Veranstaltungskosmos, mit Specials zum Sportgeschehen, mit Adress-Suchmaschinen, Archiven und Kommunikationsforen gegenüber demjenigen erheblich grösserer deutscher Titel keineswegs ab.

Die Meinung, erfolgreiche Online-Zeitungen könnten gewissermassen im Schongang als blosse Nebenprodukte oder 1:1-Versionen der Stammzeitung realisiert werden, musste schon bald revidiert werden. Auch hier müssen die Marketinginstrumente (Produkt-, Preis-, Distributions- und Kommunikationspolitik) allesamt entwickelt und aufeinander abgestimmt werden. Insbesondere genügt es nicht, die bei der Printversion sehr hohen Distributionskosten online auf die User abzuwälzen und erst noch zu erwarten, diese würden fürs Online- Verlagsprodukt oder auch nur für Teile desselben bezahlen, nachdem man sie daran gewöhnt hat, dieses umsonst zu erhalten. Die Verleger von Lokal- und Regionalzeitungen tun überhaupt gut daran, ihren Webauftritt in erster Linie als Werbung für ihr Printprodukt zu gestalten und kaum als Profitcenter.

Die Finanzierung ihrer Online-Zeitung stellt nach wie vor für viele Medienhäuser ein ungelöstes Problem dar. Bezeichnend für die unübersichtliche Situation ist, dass, je grösser die Druckauflage, desto mehr auch in die Internetversion investiert wird, aber auch, dass gerade Verleger überregionaler Zeitungen sich diese Auslagen oft gar nicht mehr leisten können, wenigstens temporär. Am Personal der eben erst etablierten Online- Redaktionen als dem grössten Kostenfaktor wird dann gespart, damit aber auch ein Gutteil des Mehrwerts wegrationalisiert. Umgekehrt beeinträchtigt der allzu unbekümmerte Einsatz von E-Commerce gerade dasjenige, auf dem das Image und damit die Akzeptanz zumal der Lokalpresse beruhen: die Glaubwürdigkeit.

 

Was ist das Publikum?

Der Erfolg des ganzen Online-Wagnisses wie überhaupt die Gegenwart und die Zukunft der Lokal- und Regionalpresse sind nur gewährleistet, wenn die Visitors, User, Konsumenten und Leser das mediale Angebot akzeptieren. Schon die Vielfalt der Etiketten verrät, dass hier die gängigen Konzepte von Publikum nicht mehr recht greifen und neu überdacht werden müssen.

Als strategisches Vademecum ist die Haupterkenntnis einer 1999 publizierten Ermittlung der Determinanten des Zeitungslesens zu empfehlen. Danach bestimmen vor allem Alter, Grösse des Wohnorts und Geschlecht das habituelle Zeitungslesen. Die Lokal- und Regionalpresse versorgt ihre Stammleserschaft, die vor allem in kleineren Wohnorten ansässig und zumindest mittleren Alters ist, insgesamt offenbar zu deren Befriedigung mit dem erwarteten Lesestoff, wenn sie auch mehr und mehr durch andere Medien und sonstige Freizeitangebote konkurrenziert wird und ihr Erfolg in Deutschland rückläufig ist.

Eine gewisse Beunruhigung der Verleger und ihr Bemühen um eine zumindest komplementäre Produktstrategie sind also durchaus situationsgerecht. Denn die Lokal- und Regionalblätter laufen Gefahr, mehr und mehr nur noch eine zwar lokal-regional integrierte, aber eher ältere und vorwiegend traditionalistisch gesinnte Leserschaft anzusprechen, sich durch diese Ausrichtung von gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozessen und den sie tragenden Kräften abzukoppeln und dabei ihren Lesernachwuchs zu verlieren.

Der strategische Manövrierraum der Verleger von Lokal- und Regionalzeitungen ist mithin weit und eng zugleich und jedenfalls sehr unübersichtlich. Im Gegensatz zur internationalen Entwicklung auf den Märkten der elektronischen Medien, in die zunehmend branchenfremde Akteure intervenieren, engagieren sich auf den lokalen und regionalen Zeitungsmärkten Verleger im Zusammenhang mit ihren Online-Aktivitäten mehr und mehr auch ausserhalb ihrer Geschäftskompetenz. Einige solcher Initiativen, die kürzlich an den Münchner Medientagen vorgetragen wurden, muteten denn auch einigermassen abenteuerlich an. Fehlt nur noch, zynisch gesprochen, dass die Zeitungen zusätzlich zu den von ihren Lesern stark beachteten Todesanzeigen auch noch die Leichenbegängnisse organisieren helfen…

 

Unwiderrufliche Entwicklung

Die Forderung nach erneuter Konzentration aufs verlegerische Kerngeschäft, nämlich die Produktion und Verbreitung gedruckter Zeitungen, kann dennoch nicht den strategischen Königsweg aus all diesen Fährnissen markieren. Die Digitalisierung der Mediengesellschaften dürfte eine unwiderrufliche Entwicklung sein und sämtlichen Akteuren auf den Medienmärkten wohlkalkulierte Flexibilität abverlangen. Wenig spricht indes auch dafür, dass dadurch alte kommunikationsgeschichtliche Regeln plötzlich ausser Kraft gesetzt werden; vor allem diejenige, dass neue Medien gewöhnlich bewährte ältere nicht verdrängen, sondern diese zur Entwicklung komplementärer Leistungsprofile nötigen.

Für die Lokal- und Regionalblätter kann dies nur bedeuten: Konzentration auf dasjenige, was das Internet nicht zu bieten hat, nämlich auf Lokalgeschichten im engeren und im weiteren Sinn, erzählt von Journalisten und von Laien und verbürgt durch lang geäufnete redaktionelle Kompetenz. Komplementarität als Verlagsstrategie sollte aber auch für das Verhältnis von gedruckter Zeitung und Online- Ausgabe gelten. Das junge Online-Geschäft darf unter keinen Umständen die Reputation der Stammzeitung beschädigen. Schliesslich und vor allem impliziert Komplementarität auch, junge, mobile Leser durch die Online-Aktivitäten bei der Stange zu halten und solche hinzuzugewinnen, etwa durch die Etablierung von Chats oder durch das Angebot, als Korrespondenten für die gedruckte Zeitung mitzuwirken. Lokales und Globales sind ja mittlerweile im medialen Nahraum in einer Hand vereinigt. Das neue Kunstwort heisst «Glokalisierung». Auch diese will gelernt sein.

 

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