Weltweit haben die boomenden elektronischen Medien die Presse unter Druck gesetzt. Doch längst nicht alle Printmedien müssen darben. Einige nutzen die gesellschaftlichen und technischen Trends geschickt zu ihren Gunsten und feiern erstaunliche Markterfolge.
Eingefleischte Sammler des Time Magazine hatten am 2. November vergangenen Jahres Anlass zu doppelter Freude: Das traditionsreiche Magazin erschien erstmals mit zwei verschiedenen Frontseiten. Während die nationale Ausgabe den Schriftsteller Tom Wolfe abbildete, zeigte das Titelbild der New York-Ausgabe eine Gruppe illegaler Einwanderer aus China. Solche „Split covers“ sind im Moment der letzte Schrei im amerikanischen Zeitschriftenmarketing. Sie haben nur einen Zweck: die Kioskverkäufe anzukurbeln. Und es funktioniert. Bereits der zweite Versuch vom 16. November war ein durchschlagender Erfolg. Eine spezielle Frontseite, die nur für Minnesota produziert wurde, zeigte den eben gewählten populistischen Gouverneur Jesse Ventura. Die Nachfrage war so gross, dass die Ausgabe nachgedruckt werden musste. Die Teenie-Zeitschrift Seventeen’s liess im Mai 1998 sogar zwei verschiedene Cover mit Leonardo DiCaprio drucken und überall in den USA verteilen. Die Ausgabe avancierte sofort zum Sammlerobjekt und die Verkaufszahlen schossen um 50% in die Höhe.
Zielgruppengenaue Splitauflagen
Eine andere Spielart von Zielgruppenmarketing praktiziert Reader’s Digest. Dank einem ausgefeilten Datenbanksystem können die Anzeigenmarketer der Publikation ihre 13 Millionen Abonnenten nach verschiedensten Kriterien in kleinere Segmente aufteilen und ihren Anzeigenkunden in Split-Auflagen nur die Belegung dieses Segmentes anbieten. Dadurch vermeidet der Kunde Streuverluste und spart Geld.
Möglich macht solches Zielgruppenmarketing hochentwickelte Produktionstechnologie und ein immer enger werdender Markt, der den Marketingstrategen einiges an Kreativität und Innovationsgeist abverlangt. In der Tat haben amerikanische Verleger einige Sorgen. Nachdem die Kioskverkäufe der 120 grössten Publikumszeitschriften in den letzten zehn Jahren um 40 Prozent zurückgegangen sind, kommen jetzt auch die Abozahlen unter Druck. Hauptgrund: Die Rückläufe auf Direktwerbeaktionen, immer noch das wichtigste Verkaufsinstrument für Zeitschriftenabos, werden immer geringer.
Auch in der Schweiz hängen die Trauben höher als auch schon. Abonnement-Fluktuationen von jährlich 30 Prozent bei Zeitschriften und 20 Prozent bei Tageszeitungen gehören schon fast zur Regel und deuten an, dass der Konkurrenzkampf auch in hiesigen Gefilden mit zunehmender Härte geführt wird. Der Grund dafür ist simpel. Immer mehr Medien kämpfen um ein knappes Gut: die Aufmerksamkeit der Rezipienten. Denn nur, wer diese gewinnt, kann auch im Werbemarkt erfolgreich sein.
Marketing wird zum Schlüsselfaktor
In der Schweiz liegt der durchschnittliche Medienkonsum pro Kopf und Tag derzeit bei 386 Minuten. Seit 1990 betrug die Steigerung trotz eines boomenden TV-Angebots lediglich elf Prozent, und für die kommenden Jahre ist mit einer weiteren Verflachung der Nutzungszunahme zu rechnen. Dass die Grenze von 400 Minuten bis zum Jahr 2010 übertroffen wird, ist kaum zu erwarten. Entgegen immer wieder gehörten Behauptungen wird in der Schweiz – im Unterschied zu anderen Ländern wie USA oder Deutschland – aber nicht weniger gelesen als früher. Vielmehr widmete ein Durchschnittsschweizer 1998 der Lektüre gleichviel Zeit wie 1980. Allerdings – und das ist es, was die Verlagsmanager quält – ging die Zunahme – eine gute Stunde pro Tag – voll auf das Konto der elektronischen Medien.
Ähnlich präsentiert sich die Situation im Werbemarkt. Zwischen 1992 und 1997 hat sich das Gesamtwerbevolumen trotz Rezession um fast zehn Prozent erhöht, doch haben die Printmedien davon nur wenig profitiert. Den Löwenanteil, nämlich fast die Hälfte des Zuwachses, beanspruchte das Fernsehen. Zwar ist für die nächsten zehn Jahre wieder mit einem deutlich stärkeren Wachstum der Werbeausgaben zu rechnen, doch werden die klassischen Printmedien daran nicht im selben Umfang teilhaben. Marketing wird somit auch für die schweizerischen Printmedien zum Schlüsselfaktor. Erfolgsrezepte aus dem Ausland können dabei aber nicht unbesehen übernommen werden.
„Mehrwert“ – kein Ersatz für redaktionelle Qualität
Ein Schlagwort, das während der letzten Jahre die schweizerische Szene beherrschte, ist „added value“. Angesichts der schwindenden Leserbindung sahen viele Printmedienmarketer darin das Zaubermittel, um bestehende Leser bei der Stange zu halten und neue zu gewinnen. Wurden zunächst vor allem Beratungsdienste angeboten (Beispiel Beobachter), tendierten die Verlage später zu kostenneutralen Mehrwerten. Die Berner Zeitung startete schon Mitte der Achtzigerjahre ihren BZaktiv Pass, der den Abonnenten verschiedene Kultur- und Freizeitangebote zu Sonderkonditionen zugänglich macht. Mit der Carte Blanche zog der Tages-Anzeiger vor zwei Jahren nach. Während bei diesen Beispielen der Kundenbindungsaspekt im Vordergrund steht, wird das Prinzip im Ausland auch als Verkaufsstrategie eingesetzt. In Italien wurde es in Form von Supplements jeglicher Art bis zum Exzess getrieben. So bot z.B. L’Unita während einer gewissen Zeit die Zeitung am Kiosk im Multipack zusammen mit Kinofilm-Videokassetten (!) an. Der Aktion war ein zweifelhafter Erfolg beschieden. Die Konkurrenzblätter zogen sofort nach, und es wurden 5 Mio. Exemplare unters Volk gebracht – bis der italienische Videomarkt völlig einbrach. Nur: neue Leser wurden keine gefunden. Ähnlich ernüchternde Erfahrungen wurden in Spanien, Griechenland, Frankreich und anderen Staaten gemacht. Das eindeutige Fazit, das sich daraus ziehen lässt, lautet: Redaktionelle Qualität ist durch „added value“ nicht zu ersetzen.
Medien als Marken
Im internationalen Rahmen heisst die neue Zauberformel „Branding“. Die dahinterstehende Idee entstammt der Konsumgüterindustrie und besagt: im angehenden 21. Jahrhundert sind die Produkte weitgehend identisch in Qualität, Preis und Leistung. Das einzige, was sie unterscheidet, ist die Marke. Auf Medien übertragen, bedeutet dies, dass auch Medien den Grundsätzen der Markenführung folgen müssen, da nur profilierte Marken sich in den engen Märkten durchsetzen werden. Im Grundsatz ist dagegen kaum etwas einzuwenden, im Detail hinkt der Vergleich mit x-beliebigen Konsumgütern jedoch. Ein x-beliebiges Konsumgut gewinnt seine Markenidentität, seinen emotionalen Wert, primär durch Kommunikation. Medienprodukte sind Kommunikation. Sie haben durch ihre Inhalte einen emotionalen Wert. Ausserdem werden sie – anders als Coca Cola oder Nike-Turnschuhe – in jeder Ausgabe wieder neu hergestellt. Qualität und Leistung sind alles andere als nivelliert, nicht einmal beim selben Produkt: so wurde die Newsweek- Ausgabe mit „Monica’s Story“ auf der Frontseite fast viermal so häufig verkauft wie die Ausgabe von zwei Wochen davor mit der Papst-Titelgeschichte. Keine Frage, erfolgsentscheidend ist bei Medien das Produkt, nicht die Marke. Dies im Unterschied zu Turnschuhen.
Trend zur Segmentierung
Anders als kurzlebige Marketingerfolgsformeln entsprechen die eingangs erwähnten Segmentierungsstrategien einem langfristigen gesellschaflichen Trend zur Individualisierung und – damit verbunden – zur Differenzierung des Medienangebotes und sind daher ernst zu nehmen. Hochentwickelte Datenbanksysteme, Produktions- und Drucktechnologien ermöglichen heute schon die völlige Individualisierung von Druckerzeugnissen. Zwar dürfte dies in den meisten Fällen keine realistische Zukunftsvision sein, doch gibt es jetzt schon Printmedien, die für verschiedene Zielpublika in verschiedenen Varianten erscheinen. Die amerikanische Programmzeitschrift TV Guide erscheint in 200 regionalen Versionen und verdient damit – wie Insider munkeln – mehr Geld als die TVStationen, deren Programme sie ankündigen. In der Schweiz tut sich die Aargauer Zeitung als Pionierin hervor. Sie produziert lokale Splitausgaben für neun Regionen, die auch Anzeigenkunden separat oder in Kombinationen belegen können. Die Geografie spielt im schweizerischen Mediensystem traditionellerweise eine grosse Rolle, besteht sie doch aus 71 Kommunikationsräumen, die über eigene Medien-Mikrokulturen verfügen (vgl. Kasten: Kommunikationsatlas der Schweiz 1999). Geografische werden aber zunehmend durch sozio-demografische Kommunikationsräume ergänzt und teilweise auch ersetzt. Ein Beispiel dafür ist die Formatierung der Radiolandschaft in Ländern mit kompetitiven Medienstrukturen. Nicht lokale Jedermannsradios sind dort erfolgreich, sondern solche mit einer klaren Zielgruppenstrategie. Nur so ist es möglich, dass in einem Land wie Norwegen 200-300 Radiostationen überleben können. In der Schweiz verhinderte bisher die Medienpolitik eine entsprechende Entwicklung, doch dürfte diese längerfristig nicht haltbar sein.
Individualisierung der Lebensstile als Chance
Das Denken in sozio-demografischen Kategorien ist in der schweizerischen Medienszene (noch) nicht sehr verbreitet. So beklagen sich die regionalen Tageszeitungen über stagnierende Abonnentenzahlen und massiv steigende Marketingkosten zur Bestandssicherung und übersehen darüber die sich bietenden Chancen zur Gewinnung von neuen Lesersegmenten. Einer Tageszeitung bieten sich jede Woche sechs Chancen (eine mögliche Sonntagsausgabe ausgenommen), eine spezifische Zielgruppe mit einem spezifischen Angebot anzusprechen. Viele Lokalnachrichten sind z.B. nicht an eine unmittelbare Tagesaktualität gebunden. Eine Konzentration dieser Themen auf einen bestimmten Wochentag könnte zusätzliche Interessenten anlocken. Und wo sind die Beilagen und Sonderseiten für Internetfreaks, Kunstliebhaber, Musikfreunde, Literaturfans, Snowboarder und Inlineskater? Oder wie wäre es mit einer thematischen Bündelung der Kleinanzeigen auf verschiedene Wochentage? Und wenn die Internetbeilage am Dienstag die Gemeindenachrichten am Mittwoch und das Wochenendmagazin am Freitag erscheint, was spräche gegen ein Ein-, Zwei- oder Dreitagesabo?
Eine ganz andere Zielgruppenstrategie fährt die belgische Zeitung De Morgen. 1994 aus einem maroden Parteiblatt hervorgegangen, setzt diese Zeitung mit einem anspruchsvollen redaktionellen Kurs konsequent auf eine junge gebildete überregionale Leserschaft. Resultat: Fünf Jahre nach der Neuorientierung hat sich die Auflage fast verdreifacht.
Die Individualisierung der Lebensstile hat zur Folge, dass sich die Kommunikationsbedürfnisse differenzieren. Um die geforderte, zielgruppenadäquate Qualität zu erreichen, werden moderne Controlling-Methoden immer wichtiger. Das Bauchgefühl der Medienschaffenden und die alljährlichen MACH-Zahlen genügen als redaktionelle Steuerungsinstrumente längstens nicht mehr. Ohne kontinuierliche Produkt- und periodische Rezipientenanalysen werden Markterfolge längerfristig ausbleiben. Im hochkompetitiven amerikanischen Radiomarkt geben die erfolgreichsten Stationen bis zu zehn Prozent ihrer Werbeeinnahmen für die Analyse ihres Publikums und ihrer Konkurrenten aus. Und eine Studie der amerikanischen Verleger über besonders erfolgreiche Tageszeitungen zeigt, dass deren Erfolge nicht zuletzt auf intensiven Forschungsanstrengungen beruhen.
Die Zukunft im Web?
Wo liegt die Zukunft der Printmedien? Alle grösseren Verlagshäuser der Schweiz sind derzeit mit der Diversifikation ins TV- und Radiogeschäft beschäftigt, und haben vielleicht deshalb noch nicht gemerkt, welche Chancen das Web bietet. Die Internetaktivitäten mancher Schweizer Printmedienanbieter beschränken sich noch auf die Zweitverwertung von Inhalten, auf Services und Kleinanzeigen. Das Internet als Marketing-Instrument für die Zeitung. Bald könnte es umgekehrt sein: Print als Marketing-Instrument fürs Internet. Schliesslich geniessen Zeitungen und Zeitschriften das Vertrauen ihrer Kunden und v.a. haben sie schon einen direkten Zugang zu diesen. Das Stichwort heisst E-Commerce. Dabei steht vor allem die Ausweitung des Kerngeschäfts wie die Verwertung des Archivs und der Verkauf von Informationsprodukten im Vordergrund. Die Bilanz geht mit ihrem Online-Shop konsequent in diese Richtung. Noch einen Schritt weiter gehen Edicom oder die TA-Media, indem sie eigentliche virtuelle Shopping-Center aufbauen, in denen man vom Wein bis zum Anlagefonds alles mögliche elektronisch ordern kann. Die Zeitung als Kaufhaus? Die Idee ist naheliegend und deshalb verlockend. Eine andere Frage ist, ob die Kundschaft den Spagat zwischen unabhängiger Information und schnödem Krämertum goutiert. Weniger Bedenken haben da die Amerikaner, und das Fachblatt Editor & Publisher empfiehlt seinen Lesern kurzerhand: „Let’s try this and see if it works“.
Probleme:
- Stagnierende Mediennutzung
- Flüchtigere Nutzung
- Individualisierung der Lebensstile
- Abnehmende Leserbindung
- Hohe Abo-Fluktuationsraten
- Rückläufige Response-rates auf Direktwerbung
- Rückläufige Verkaufseinnahmen
- Konkurrenz durch elektronische
- Medien Marktanteilverluste im Werbemarkt
- Geografisches Denken
- Kürzere Produktlebenszyklen
- Streuverluste
Lösungen:
- Publizistische Qualität Forschung/Controlling
- Produktsegmentierung
- Produktdiversifikation
- Split-Ausgaben
- Split Covers
- Mehrwertangebote
- Markenaufbau
- Gratisvertrieb
- Controlled Circulation
- Intermediale Werbekombis
- Kürzere Redesign-Perioden
- Selektive Anzeigenbelegung
- Soziodemografisches Denken
- Sponsoring
- E-Commerce
Kommunikationsatlas der Schweiz 1999
Die schweizerische Medienlandschaft ist schon aus Gründen der Sprachregionen traditionell geografisch geprägt. Das Marketing insbesondere tagesaktueller Medien hat denn auch eine starke Raumdimension. Der eben erschienene Kommunikationsatlas der Schweiz 1999 enthält Daten zu Medien, Bevölkerung und Kaufkraft in 71 Kommunikations und 24 Wirtschaftsräumen der Schweiz.
Fr. 224.– Verlag Media-Daten, Zürich (ISBN 3-9521046-1-2)