Die Medienpolitiker der frühen achtziger Jahre träumten vom lokalen Integrationsrundfunk, von einem neuen Medium, das die Informationsvielfalt vergrössern und die politische Partizipation der Bürgerinnen und Bürger im Lokalbereich erleichtern sollte. Dabei war das Medium Radio im internationalen Rahmen längst im Begriff, sich vom Einschalt- zum Begleitmedium, vom ‚Kulturinstitut‘ zum ‚Produkt‘ zu wandeln. Die hehren medienpolitischen Erwartungen erwiesen sich denn auch rasch als reichlich realitätsfern. Zwar hat die Bevölkerung die privaten Radios rasch akzeptiert, die erhoffte Vielfalt blieb jedoch aus oder entpuppte sich allenfalls als Standortvielfalt. Ansonsten setzte sich das Prinzip „more of the same“ durch.
Durchschnittlicher Hörerfolg bei durchschnittlichem Publikum
Daran hat sich seit Beginn der Privatradioära in der Schweiz kaum etwas geändert: Weil die privaten Anbieter in den meisten Kommunikationsräumen ausser den drei öffentlichen DRSProgrammen keine Konkurrenz haben, setzen sie auf Mehrheitsfähigkeit, was unweigerlich zu einer starken Angleichung der Angebote führt. Die meisten Privaten erzielen mit solchen Programmen einen durchschnittlichen Hörerfolg bei einem durchschnittlichen Publikum. Dies reicht offenbar, um den minimalen Anforderungen der Werbewirtschaft zu genügen.
Doch die Zeit steht nicht still. Die Dynamik, die das Medium Radio in der Schweiz nach Zulassung der lokalen Veranstalter erlebte, ist inzwischen einer Stagnation gewichen. Die Publikumszuwendung stagniert ebenso wie das Werbeaufkommen. Letzteres auf – im internationalen Vergleich – tiefem Niveau. Entsprechend schlecht ist die Wirtschaftlichkeit vieler Radios. Davon, dass das internationale Radiosystem vor einem grossen Innovationsschub steht, ist in der Schweiz noch wenig zu spüren. Spätestens mit der Durchsetzung der digitalen Rundfunktechnik wird nämlich das Argument der Frequenzknappheit vom Tisch sein. Bis zu 80 Programme werden dereinst auf einer bestehenden Frequenz ausgestrahlt werden können. Der heute praktizierte Protektionismus wird dann nicht mehr zu rechtfertigen sein.
Formatradio: unverwechselbares Markenprodukt
Aber nicht nur die Technik dynamisiert das internationale Radiosystem. Der zunehmende Wettbewerb hat in liberalisierten Rundfunksystemen die Anbieter unter Druck gesetzt, ihre Programmangebote stärker auf die Publikumserwartungen auszurichten und sie im Konkurrenzumfeld deutlicher zu positionieren: Die Programme sollen zu unverwechselbaren Markenprodukten werden. Das Resultat sind sog. Formatradios. Der Begriff umfasst wesentlich mehr als die blosse Konzentration auf einen bestimmten Musikstil. Formatradios optimieren ihre Programm- und Marketingstrategie mit dem Ziel, die Bedürfnisse einer klar definierten Zielgruppe optimal zu befriedigen. Zu diesem Zweck werden vor allem auch Instrumente der Hörer- und Programmforschung eingesetzt. Der Prozess der Formatierung des Radiosystems ist in den USA am weitesten fortgeschritten. Weil dort auf 100’000 Einwohner vier Radiostationen kommen, überleben nur Anbieter, die sich konsequent auf bestimmte Hörbedürfnisse konzentrieren. Dabei ist allen erfolgreichen Stationen – unabhängig vom praktizierten Format – gemeinsam, dass sie bedeutende Mittel für die Analyse ihrer Konkurrenten und ihres Zielpublikums verwenden. Erstaunlicherweise hat die konsequente Marktorientierung nicht zu einem Ende der Wortkultur am Radio geführt. Im Gegenteil. Die reinen News-/ und ‚Talkradios‘ zählen sowohl auf dem Publikums- als im Werbemarkt zu den erfolgreichsten Formaten. In den USA ist der Formatierungsprozess mit Abstand am weitesten fortgeschritten, doch geht auch in Europa der Trend eindeutig in diese Richtung. In Deutschland können rund zwei Drittel der privaten Anbieter als Formatradios bezeichnet werden. Obwohl es auch heftige Kritik an dieser Entwicklung gibt – ob berechtigt oder nicht, sei dahingestellt – steht fest: Die Zukunft gehört dem Formatradio.
Instrument zur strategischen Positionierung von Radioprogrammen
Vor diesem Hintergrund entstand die Konzeption der vom Bakom geförderten Publicom-Studie „Radioprogrammprofile und Publikumspräferenzen“, die zwei Ziele verfolgte: Erstens sollte überprüft werden, inwieweit Formatierungsprozesse auch in der Schweiz zu beobachten sind, zweitens war beabsichtigt, ein Instrument zur Analyse und Erarbeitung von Programmstrategien zu entwickeln und zu überprüfen. Als Untersuchungsregionen wurden zwei denkbar unterschiedliche Kommunikationsräume ausgewählt: Basel und das Berner Oberland. Im urbanen Raum Basel ist eine durch die Grenzlage bedingte vergleichsweise kompetitive Situation vorzufinden, während im geschlossenen ländlichen Berner Oberland nur ein privates Radio mit den DRS-Sendern konkurriert.
Um den Zusammenhängen zwischen Programmprofilen und Hörerfolg auf die Spur zu kommen, wurden in beiden Räumen repräsentative Publikumsbefragungen durchgeführt und mit einer inhaltlich-formal-strukturellen Programmanalyse in Beziehung gesetzt. Dabei wurde zum ersten Mal in der Schweiz die Methode der Formatanalyse eingesetzt. Diese trägt dem Umstand Rechnung, dass die Charakteristik eines Radioprogramms nicht nur von den Musikund Wortbeiträgen bestimmt wird, sondern ebenso von Struktur, Rhythmus und Kompositorik. Die Formatanalyse vermag solche formal-strukturellen Unterschiede auch kleinsten Ausmasses sichtbar zu machen. Sowohl in konzeptioneller als auch operativer Hinsicht konnte das Projektteam dabei von den Erfahrungen des Forschungsdienstes des deutschen Südwestfunks profitieren.
Schweiz: Wettbewerb garantiert keine Formatvielfalt
Die Ergebnisse zeigen, dass das schweizerische Radiosystem im Angebotsbereich der internationalen Entwicklung hinterherhinkt. Eine Programmformatierung ist nämlich erst in Ansätzen erkennbar. Zwar reicht das Spektrum der untersuchten Programme und Programmteile vom MOR (Middle of the Road)-Format bis zum Mainstream CHR (Contemporary-Hit Radio), doch werden meist Mischformen praktiziert, die ein recht weites Feld abdecken. Insbesondere die privaten Radios bewegen sich schwergewichtig im Bereich des Mainstream AC (Adult Contemporary)-Formats mit der Tendenz, dieses nach verschiedenen Seiten zu öffnen. Von dieser Strategie verspricht man sich offenbar das grösste Publikum.
Nun könnte man annehmen, dass die Differenzierung umso grösser ist, je stärker der Wettbewerb ist. Diese Vermutung wurde widerlegt. Im kompetitiven Raum Basel ähneln sich die Programme (mit Ausnahme von DRS1) viel stärker als im geschützten Berner Oberland. Dies lässt sich unter anderem an den gesendeten Musikstilen erkennen. Ein Vergleich dreier ausgewählter Stile zeigt bei Basilisk und Edelweiss ein praktisch identisches Muster, während Regenbogen Pop- und Rockmusik etwas anders gewichtet (Abb. 1). Anders im Berner Oberland: Dort strahlen die drei reichweitenstärksten Sender klar unterschiedliche Musikprogramme aus.
Parallelen im Nutzungsverhalten
Trotz aller Verschiedenheit der beiden Untersuchungsräume, zeigen sich im Radionutzungsverhalten der jeweiligen Bevölkerungen erstaunliche Parallelen:
- In beiden Räumen ist die Tagesreichweite des Mediums hoch. Mindestens acht von zehn Personen werden vom Medium Radio an einem Tag erreicht. Die Zahl derjeniger, die gar nie Radio hören, ist verschwindend klein. Radio hat einen festen Platz im Alltag der Menschen.
- Es bestätigt sich auch mit aller Deutlichkeit der Begleitcharakter des Mediums. Radiohören ist sehr häufig Sekundäraktivität, und es gibt in bezug auf die dabei ausgeübten Tätigkeiten (Autofahren, Hausarbeiten machen, usw.) in den beiden untersuchten Räumen kaum Unterschiede. (Abb. 2)
- Identisch ist auch die Grobstruktur der Programminteressen (Abb. 3). Dabei zeigt sich die Priorität der Musik oder – anders formuliert – die zentrale programmstrategische Bedeutung des Musikformates. Die Musik ist denn auch der Hauptgrund für allfällige Programmuntreue. Fast ebenso wichtig wie die Musik sind aber auch die Nachrichten, die Wettervorhersage und die Regionalinformationen. Radio ist somit nicht nur ein blosses Unterhaltungsmedium, sondern die Funktion der Umweltkontrolle bzw. -überwachung dürfte eine sehr grosse Rolle spielen. Mehrheitlich auf Desinteresse stossen jedoch die von den Sendern mehr oder weniger häufig eingesetzten Hörerspiele. Ob die damit intendierte Zielsetzung, nämlich Hörerbindung zu erzielen, auf diese Weise erreicht wird, mag aufgrund dieser Resultate bezweifelt werden.
Musikformat ist entscheidend
Die Detailanalyse verweist indessen auf differenzierte Bedürfnisse, die von den bestehenden Programmen aber in der Regel nur unvollkommen befriedigt werden. Solche spezifischen Bedürfnisse werden nicht (nur) von der geografischen Situation bestimmt, sondern vor allem von soziodemografischen Merkmalen. So homogen nämlich die Programminteressen sind, so heterogen sind die Bedürfnisse hinsichtlich der Musik. Musik konstituiert eine eigene Interessendimension, die unabhängig von den übrigen Programmpräferenzen ist. Hörerinnen und Hörer wählen ein bestimmtes Programm, weil ihnen die Musik zusagt, und sie wechseln den Sender, wenn sie missfällt. Eine Zielgruppenorientierung kommt somit fast ausschliesslich über das Musikformat zustande, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Musikpräferenzen stark von Alter und Bildung abhängig sind. Sender, die es punkto Musik allen recht machen wollen, sind damit zum vornherein auf verlorenem Posten. Der weiterhin beachtliche Erfolg des ‚Full-Service‘-Radios DRS1 scheint diese Aussage zwar zu widerlegen, bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass dessen Erfolg im wesentlichen auf den Informationssendungen gründet, die beim DRS1-Stammpublikum eine besonders hohe Wertschätzung geniessen. Die Information kompensiert sozusagen die Defizite des Musikprogramms.
Während in den USA mittlerweile über 40 verschiedene Radioformate praktiziert werden, vom reinen Wortprogramm (z.B. News-Radio) bis zum Heavy-Metal-Radio, konzentrieren sich die von der Formatanalyse erfassten Schweizer Privatstationen auf das am ehesten erfolgversprechende sog. ‚Mainstream AC-Format‘. Damit vergraulen sie aber einen Grossteil des jüngeren Publikums, dem dieses zu wenig profiliert ist. Dieses Phänomen lässt sich in beiden Räumen beobachten, mit jeweils ähnlichen Konsequenzen: Im Berner Oberland profitiert DRS3, im Raum Basel vor allem das deutsche Radio Regenbogen.
Der Hörerfolg des letzteren im Raum Basel ist im übrigen ein besonders eindrücklicher Beleg für den Erfolg des Formatradios. Zwar bewegt sich auch Regenbogen im Bereich des mehrheitsfähigen ‚Mainstream-AC‘. Doch wird dies dort viel konsequenter praktiziert als bei der Schweizer Konkurrenz. Hinzu kommt eine klare Struktur, die dem Programm Dynamik und Identität verleiht. Dadurch entsteht die Unverwechselbarkeit, die ein erfolgreiches Radio in kompetitiven Märkten benötigt. Aufgrund dieser Vorzüge vermag es gewichtige Nachteile gegenüber den Basler Lokalradios wie fehlende Dialektmoderation und ein geringerer Lokalbezug auszugleichen und sich in gewissen Hörersegmenten als klarer Leader zu positionieren.
Formatierung als Zukunftschance
Die Studie zeigt, dass sich das ‚Konzept Lokalradio‘ überlebt hat. Zu unterschiedlich sind die Interessen und Erwartungen verschiedener Publikumssegmente als dass diese ein lokales Integrationsprogramm vollumfänglich befriedigen könnte. Zwar zeigt sich, dass es kein generelles Erfolgsrezept für einen Radioanbieter gibt, es steht aber fest, dass der Lokalbezug nur eine unter verschiedenen Erfolgsfaktoren ist. Der Schlüsselfaktor ist die Musik, die zusammen mit Sendungsaufbau, Strukturelementen, Moderation, Informations und Serviceleistungen ein für die entsprechende Zielgruppe mehr oder weniger stimmiges Produkt ergibt.
Die internationale Entwicklung macht vor der Schweizer Grenze nicht halt. Für das Medium Radio muss dies aber nichts Schlechtes bedeuten. Die Formatierung bietet nämlich die grosse Chance, sich gegenüber der bestehenden und neuen Medienkonkurrenz erfolgreich zu behaupten. Doch das hiesige Radiosystem ist für den kommenden Innovationsschub schlecht gewappnet. Da die meisten Privatradios in ihrem Raum faktische Monopolisten sind, erübrigen sich grössere programmstrategische Anstrengungen. Zu kleine Konzessionsgebiete und das Gebührensplitting zementieren ebenfalls die herrschende Ordnung. Immerhin hat die Medienpolitik mit der Erteilung zusätzlicher Konzessionen in wirtschaftlich starken urbanen Agglomerationen die Weichen in die richtige Richtung gestellt. Ob dies dann auch zur erhofften Vielfalt führt, bleibt abzuwarten.
Die Studie „Radioprogramme und Programmprofile“
- Untersuchungsregionen: Kommunikationsraum Basel, Wirtschaftsraum Berner Oberland (Definitionen nach ‚Kommunikations-und Wirtschaftsräume der Schweiz‘, Media-Daten- Verlag 1996)
- Untersuchte Programmangebote: DRS1, DRS3, Radio Berner Oberland, Radio Basilisk, Radio Edelweiss, Radio Regenbogen
- Methode: Kombinierte HörerInnenbefragung/Formatanalyse. Pro Region je 500 CATI-Interviews. Formatanalyse mittels Stichtagerhebung 06.00-20.00 Uhr. Total: 84 Programmstunden.
- Erhebungszeitpunkt: 2. Jahreshälfte 1996