Weshalb hören die Schaffhauserinnen und Schaffhauser lieber Radio Munot als die Zürcher Stadtsender, die in Schaffhausen ebenfalls in bester Qualität zu empfangen sind? Warum bevorzugt das Baselbiet die Basellandschaftliche Zeitung gegenüber der mächtigen BAZ und warum setzt das „Weltblatt NZZ“ mehr als die Hälfte seiner Auflage in der Agglomeration Zürich ab? Dieses Phänomen hat damit zu tun, dass Kommunikation nicht zuletzt auch eine räumliche Dimension aufweist.
Aber nicht nur Medienunternehmen sind davon betroffen. Marketingleute, die ihren Aussendienst organisieren, Verkehrsplaner, die die Reichweite eines Tarifverbundes definieren müssen, und auch der Gesetzgeber, der die Versorgungsgebiete von elektronischen Medien räumlich abzugrenzen hat, sie alle wissen davon ein Lied zu singen. Dass Kommunikation innerhalb bestimmter Grenzen intensiver ist als über diese Grenzen hinweg, bestätigt jederzeit die Alltagserfahrung. Dass das Interesse an „lokalen“ und „regionalen“ Themen und Geschehnissen bei Konsumentinnen und Konsumenten von Medienprodukten regelmässig am grössten ist, weit vor „Ausland“, „Inland“, „Sport oder „Wirtschaft“, hat die Rezipientenforschung enthüllt. Bloss, wo hört das Lokale, das Regionale auf, wo beginnt die „andere“ Region? Mit dem Konzept der Kommunikationsräume bietet sich eine Lösung für dieses Problem an, die befriedigender ist als sich auf politische Grenzen (z.B. Kantone) oder die willkürliche Grenzziehung zu verlassen. Kommunikationsräume sind dadurch charakterisiert, dass sie – über topographische und politische Grenzen hinweg – eine innere Einheitlichkeit aufweisen, die sich unter anderem in einem subjektiven Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewohner des Gebietes, in gemeinsam genutzten Kommunikationsinfrastrukturen und gemeinsamen Informationsbedürfnissen (lokale und regionale Nachrichten, Produkteinformationen, usw.) ausdrückt. Die Zusammengehörigkeit einer Region kommt durch sehr verschiedene Faktoren zustande: historische, kulturelle, politische und wirtschaftliche. Die Bindung ist nicht überall gleich stark und kann sich im Verlaufe der Zeit auch ändern. Kommunikationsräume sind deshalb nicht messerscharf abgrenzbar, die Grenzen sind mitunter fliessend.
71 Kommunikations-, 24 Wirtschaftsräume
Im Rahmen eines Forschungsprojektes der Publicom wurde nun erstmals ein auf empirischer Basis ermitteltes Kommunikationsraumkonzept für die Schweiz entwickelt (vgl. Kasten). Die Schweiz lässt sich aufgrund der Forschungsergebnisse in 71 Kommunikationsräume unterteilen. Die Vielfalt der Schweiz, die historische, topographische und andere Ursachen hat, reflektiert sich auch in diesem Ergebnis. Die Vielzahl der Kommunikationsräume vermag unter anderem auch zu erklären, weshalb die Schweiz immer noch über eine im internationalen Vergleich respektable Vielfalt an Zeitungstiteln verfügt. Der Kommunikationsraum bietet nämlich sozusagen einen imaginären Schutz für die Medienlandschaft, die sich darin entfaltet. Angesichts zunehmender Mobilität der Bevölkerung tendieren solche Räume aber auch dazu, zusammenzuwachsen. Die lokal-regionalen Kommunikationsräume lassen sich daher zu 24 grösseren räumlichen Einheiten, den Wirtschaftsräumen, zusammenfassen. Diese sind dadurch definiert, dass es sich um mehr oder weniger geschlossene Arbeitsmarktregionen handelt, deren Bewohner sich auf ein grosses, urbanes Zentrum hin orientieren.
Nur 3 von 24 WEMF-Gebieten halten Überprüfung stand
Es ist naheliegend, die von der Publicom ermittelten Kommunikations- und Wirtschaftsräume mit den seit den 60er Jahren bestehenden WEMF-Gebieten zu vergleichen, zumal sich in der Branche zunehmend Kritik an den WEMF-WG’s breitmacht (vgl. MTJ 4/94). Der Vergleich wird allerdings dadurch erschwert, dass die Kriterien, nach welchen die WEMF-Gebiete entstanden (soweit es überhaupt welche gab), heute nicht mehr auszumachen sind. Gemessen an der Ausdehnung der Publicom-Wirtschaftsräume lässt sich zunächst als generelles Fazit festhalten: Auch die WEMF unterscheidet 24 Wirtschaftsgebiete. Allerdings halten nur gerade drei einer kritischen Überprüfung stand, nämlich die WGs 31 (=WR BASEL), 42 (=WR SCHAFFHAUSEN) und 23 (=WR OBERWALLIS). In allen anderen Fällen sind zum Teil beträchtliche Korrekturen fällig. Wie sehr die WEMF-Gebiete von der Realität der 90er Jahre entfernt sind, zeigt der Vergleich zwischen dem WG 43 und dem Wirtschaftsraum ZÜRICH.
Vergleich WG 43 – Wirtschaftsraum ZÜRICH
Das WG 43 ist identisch mit dem Kanton Zürich. Im Südosten grenzt es an das WG 27, welches das Linthgebiet, die Region Einsiedeln und den Kanton Glarus umfasst. Die Gebiete des oberen Zürichsees mit Rapperswil und Jona gehören somit zum WG 27. Konsequenterweise, d.h. wenn man der Logik der Kantonsgrenzen folgt, liegt auch die Stadt Winterthur im WG 43, nicht aber das aargauische Baden. Anders der im Forschungsprojekt eruierte Wirtschaftsraum ZÜRICH. Mit 1.4 Millionen Einwohner mit Abstand der grösste Wirtschaftsraum der Schweiz umfasst er die Kommunikationsräume ‚Zürich‘, ‚Zürcher Oberland‘, ‚Zürcher Unterland‘, ‚Linthgebiet‘, ‚Baden‘ und ‚Freiamt‘. Er reicht von der Landesgrenze im Norden bis an den Walensee. Im Unterschied zum WG 43 zählen zwar das Linthgebiet, das Freiamt und die Region Baden ebenfalls zum Wirtschaftsraum ZÜRICH, nicht aber Winterthur und das Weinland. Es würde zu weit führen, alle Grenzverläufe im Detail zu erklären. Eine exemplarische Begründung sei deshalb am Beispiel der südöstlichen Grenze des Wirtschaftsraums ZÜRICH gegeben. Die Schwyzer Bezirke Höfe und Einsiedeln gehören vor allem aufgrund der Pendleranalyse zum Kommunikationsraum ‚Zürich‘. Das ‚Linthgebiet‘ entspricht einem eigenen Kommunikationsraum, dies weil sich drei Viertel der in diesem Gebiet befragten Personen subjektiv zu dieser Region zugehörig fühlt, aber auch weil die Region eine eigene Tageszeitung mit einer relativ starken Marktstellung aufweist. Der Kommunikationsraum ‚Linthgebiet‘ als Ganzes weist aber eine relativ stark negative Pendlerbilanz auf. Die Pendlerströme zeigen jedoch ganz klar in eine Richtung, nämlich nach Zürich, und auch was die Zentrumsorientierung anbelangt, steht die Stadt Zürich neben den wichtigsten Einkaufsorten im eigenen Bezirk eindeutig im Vordergrund. Eine Verbindung der drei Schwyzer Bezirke und des Linthgebietes mit dem Kanton Glarus, wie sie im WEMF-WG 27 zum Ausdruck kommt, ist auf alle Fälle nicht nachvollziehbar.
Die südöstliche Grenze des WEMF-Wirtschaftsgebietes 43 ist somit eine willkürliche. Dasselbe gilt auch für die östliche und die westliche
Grenze. So hat z.B. der Kommunikationsraum ‚Weinland/Winterthur‘ eine vergleichsweise ausgeglichene Pendlerbilanz, zeichnet sich durch eine starke Eigenidentität aus, und hat mit der Stadt Winterthur ein starkes Zentrum. Eine Orientierung in Richtung Stadt Zürich ist in diesem Gebiet nicht oder nur in geringem Ausmass zu beobachten. Gerade umgekehrt ist die Situation im Kommunikationsraum Baden. Sowohl hinsichtlich der Pendlerströme als auch der Zentrumsorientierung gehört dieser Raum eindeutig zum Wirtschaftsraum ZÜRICH.
Vorteile für die Kommunikationswirtschaft
Die Regionalisierung der Schweiz nach den im Projekt ermittelten Kommunikations- und Wirtschaftsräumen bringt für Medienunternehmen und Werbetreibende eine ganze Reihe von Vorteilen gegenüber der derzeitigen, in der Branche verwendeten:
- Das Konzept wird den derzeitigen lokal-regionalen Verbreitungsgebieten von Zeitungen und elektronischen Medien besser gerecht, weil Kommunikationsräume den Charakter „natürlicher“ Verbreitungsgebiete haben. Dass bspw. Zeitungen ihre Leserschaft in verschiedenen WGs „zusammensuchen“ müssen, dürfte nach dem Kommunikationsraum-Modell kaum noch der Fall sein. Dasselbe gilt analog auch für die Mediaplanung.
- Das Konzept könnte die Forderung nach Vergleichbarkeit der Mediadaten zwischen Print- und elektronischen Medien zumindest in räumlicher Hinsicht erfüllen. Denn sowohl Radioprogramme als auch Zeitungen sind, was deren Nutzung anbelangt, ähnlichen Bedingungen der räumlichen Verbreitung unterworfen. Voraussetzung wäre allerdings, dass die beiden Forschungsorganisationen WEMF und SRG, ihre Reichweitendaten nach Kommunikations- und Wirtschaftsräumen erheben bzw. ausweisen würden.
- Das Konzept gibt Marketingleuten und Mediaplanern ein Instrument in die Hand, Zielgruppen wirkungsvoller anzusprechen. Wenn Marketinganstrengungen gezielt auf Kommunikationsräume konzentriert werden, können kumulative Werbeeffekte eher entstehen als wenn Räume bearbeitet werden, die in keinerlei innerem Zusammenhang stehen.
- Weil das Konzept auf objektiv überprüfbaren Kriterien und einer bekannten Datenbasis beruht, können jederzeit Korrekturen an den Räumen angebracht werden, sofern aktuelle Daten dies erforderlich machen. Denn Kommunikationsräume sind dynamische Gebilde, die sich im Verlaufe der Zeit verändern können.
Das Forschungsprojekt „Kommunikationsräume in der Schweiz“
1992 beauftragte das Bundesamt für Kommunikation (Bakom) die Beratungsunternehmen Prognos (Basel) und Publicom (Oberrieden) mit einer Studie über die Wirtschaftlichkeitschancen von Lokalradios. Eine Überprüfung bestehender und neuer Radio-Versorgungsgebiete sollte unter den Optimierungskriterien „Wirtschaftlichkeit“ und „politisch-kulturelle Homogenität“ möglich sein. Es wurde aber offenkundig, dass für letzteres die Voraussetzungen nur bedingt vorhanden waren, weil ein für diesen Zweck verwendbares Raumkonzept für die Schweiz fehlte. Die erkannte Forschungslücke nahm ein Team der Publicom zum Anlass, das Forschungsprojekt „Kommunikationsräume in der Schweiz“ auf die Beine zu stellen. Mit einer Teilfinanzierung des Bakoms wurden seit Herbst 1993 die Volkszählungsdaten von 1990 umfassend analysiert, die Zeitungsverbreitungsstruktur in der Schweiz untersucht sowie eine Befragung aller Präsidentinnen und Präsidenten der Schweizer Gemeinden und Städte durchgeführt. Die Ermittlung und Abgrenzung der Räume basieren auf einer komplexen Methodik, mit der die Zusammengehörigkeit von Räumen aufgrund von Kriterien der objektiven und subjektiven Einheitlichkeit bestimmt wurde. Berücksichtigt wurden die folgenden Dimensionen und je nach ihrer kommunikativen bzw. wirtschaftlichen Relevanz unterschiedlich gewichtet:
- Kultur (Sprache, Konfession, subjektive Regionszugehörigkeit und kulturelle Orientierung der Bevölkerung)
- Wirtschaft (Pendlersituation, Einkaufsverhalten der Bevölkerung)
- Politik (Bezirksgrenzen)
- Publizistik (Verbeitungsgebiete lokal-regionaler Tageszeitungen)